Ein Wort

 

 

 

 

 

 

Wir stoppten das Auto für einen Moment an der roten Ampel. Mein Blick fiel auf das Straßenschild gegenüber. Ich las Zwätzengasse. Nach ein paar Jahren ohne meine Großmutter in dieser Stadt wurde mir mit einem Mal bewußt, wie schnell das geht, dass sich eine Stadt fremd anfühlt, die einem doch mal gehört hatte. Für mich bestand nie ein Zweifel, daß das Wort, welches ich so oft von meiner Großmutter ausgesprochen vernahm, ihr allein gehört. Es war ihr Wort, es war ihre Gasse. In meinem Leben gab es diese Gasse nicht, ich hörte das Wort zum ersten mal aus ihrem Mund und obwohl diese Gasse noch immer existiert, ist es nicht mehr dieselbe seit meine Großmutter starb. Sie wohnte zwar nicht dort, die Zwätzengasse jedoch war als Orientierungspunkt, als Erinnerungsraum stets präsent in ihren Erzählungen. Lese ich Zwätzengasse, höre ich meine Großmutter Zwätzengasse sagen und sagt jemand Zwätzengasse, denke ich zuerst an meine Großmutter und nicht an diese Gasse.
Beim Klang des Wortes sehe ich mich am menschenleeren Sonntagmorgen den steilen Berg hinauflaufen zum Haus, in dem meine Großeltern lebten, spüre meine Füße auf den ausgetretenen Steinstufen vor der schweren dunkelbraunen Eingangstür, rieche den Bohnerwachs im kalten Treppenhaus und fühle das Fremdsein im eigenen Leben, weil diese Besuche selten stattfanden und ich mehr Gast als Teil dieses Lebens war. Es waren die Sonntage, die uns gehörten, einige wenige im Jahr. Je älter ich wurde, um so mehr wurden sie zur Pflicht. Ich hatte noch nicht verstanden, wie schnell die Zeit vergeht, wie wenig man wirklich aufschieben kann und dass das Wort Zwätzengasse ein Verfallsdatum hat.
Meine Großmutter und ich bewegten uns an vielen Stellen in der Stadt. Oft holte sie mich ab von der Bushaltestelle und brachte mich auch wieder dorthin. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je zusammen in der Zwätzengasse waren. Und doch ist es dieses Wort, das ihr Fehlen schmerzhaft in mein Bewusstsein rückt.
Die Ampel schaltet auf Grün. Im Rückspiegel wird die Kreuzung kleiner und kleiner. Die Straße führt zurück in die Stadt, in der ich jetzt lebe und in der es keine Zwätzengasse gibt.

3 Gedanken zu „Ein Wort

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