In Ordnung

 

 

 

 

 

Ich war vor einigen Tagen beim Treffen meines Abiturjahrganges. Dort habe ich mich in eine Liste eingetragen. Name, Vorname, Geburtsname, Adresse, e-mail Adresse. Man macht das so, wenn man wiedergefunden werden möchte. Die Liste war kurz, weil die Beteiligung am Jahrgangstreffen nicht groß war. (Vielleicht war es zu dicht an den Feiertagen und nicht langfristig genug geplant.) Einige Namen hatten sich geändert und die Adressen lagen zum großen Teil im und um den Ort der Schule, die wir einst gemeinsam besucht haben.

Es ist schon einige Jahre her, da fiel mir beim planlosen Schlendern durch die Uni-Bibliothek ein Buch über das Bauhaus in die Hände. Es gibt dort nicht wenige Bücher zu diesem Thema, schließlich befinden wir uns in Weimar. Auf einer der Abbildungsseiten fand ich eine Liste, mit der Maschine geschrieben oder vielleicht auch mit der Hand. Es war eine Aufzählung von Absolventen des Bauhauses. Sicher bin ich mir nicht mehr, um welche Phase es sich handelte. Weimar, Dessau, Berlin oder alle zusammen.
In welchem Jahr und von wem die Liste angefertigt wurde, kann ich ebenfalls nicht erinnern. Man konnte die Namen lesen, die Studienrichtung und den Ort, wohin es die ehemaligen Schüler nach dem Krieg verschlagen hatte. Einige Orte befanden sich in Deutschland, andere in den USA, in Europa, in Israel, vielleicht war Südamerika dabei, ich weiß es nicht mehr genau. Ein paar Stellen blieben leer und dann gab es jene, die mich diese Liste nie vergessen ließen. An diesen Stellen stand das Wort Auschwitz oder das eines anderen Todeslagers der Nationalsozialisten. Mag sein, es stand eine Jahreszahl, ein Datum daneben.

Die Geschichte des Bauhauses ist bekannt. Diese Informationen in einem Buch über das Bauhaus zu finden, ist also nicht überraschend. Trotzdem hat mich die Liste erschüttert, weil sie sich nicht nur falsch anfühlt, sondern weil sie durch ihre blanke Existenz die Unmöglichkeit einer Ordnung ignoriert. Weil sie eine Ordnung herstellt für etwas, das nicht in Ordnung zu bringen ist, etwas, was sich jeglichem Zurechtordnens verwehrt. Ich kann mich an eine Adressangabe erinnern, die sehr konkret war, mit Strasse und Hausnummer. Eine Zeile tiefer könnte an der gleichen Stelle ein Todeslager gestanden haben. Es liegt ein Abgrund zwischen diesen beiden Informationen, der nicht durch den Beginn einer neuen Zeile zu überwinden ist. Eine Form von Normalität wird suggeriert, wenn in einer Zeile ein Wohnort steht währenddessen die gleiche Stelle in einer anderen Zeile von einem Todeslager belegt wird. Der Ort, zu dem man Menschen verschleppt hat, um ihnen ihr Recht auf Freiheit und Leben zu nehmen, taucht in der gleichen Kategorie auf wie die Orte, die sich die ehemaligen Kommilitonen zum Wohnen und Leben frei erwählt haben. Das ist keine Ordnung. Das ist nicht in Ordnung.

Ich habe lange nach dieser Liste gesucht. Ich weiß nicht mehr, in welchem Buch ich sie damals gefunden habe. Sie ging mir nie aus dem Kopf. Wahrscheinlich werde ich wieder in die Bibliothek gehen, einen neuen Versuch starten. Ich würde sie mir gern noch einmal ansehen, die Einzelheiten überprüfen, feststellen, ob sie wirklich das ist, zu dem sie in meiner Erinnerung gewachsen ist. Je länger ich darüber nachdenke, um so unwirklicher scheint mir mein erster Eindruck.

Lange habe ich auch nach einem Zitat von Ruth Klüger gesucht, an das ich im Zusammenhang mit der Liste denken mußte. Ich konnte mein Exemplar von „weiter leben“ nicht finden und habe es mir noch einmal in der Bibliothek ausgeliehen. Hier hatte ich mich richtig erinnert. Sie schrieb:

An den Ort, den ich gesehen, gerochen und gefürchtet habe und den es jetzt nur noch als Museum gibt, gehör ich nicht hin, hab dort niemals hingehört. Ein Ort für Geländebewahrer.
Und doch wird dieser Ort jedem, der ihn überlebt hat, als eine Art Ursprungsort angerechnet. Das Wort Auschwitz hat heute eine Ausstrahlung, wenn auch eine negative, so daß es das Denken über eine Person weitgehend bestimmt, wenn man weiß, daß die dort gewesen ist. Auch von mir melden die Leute, die etwas Wichtiges über mich aussagen wollen, ich sei in Auschwitz gewesen. Aber so einfach ist das nicht, denn was immer ihr denken mögt, ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien. Wien läßt sich nicht abstreifen, man hört es an der Sprache, doch Auschwitz war mir so wesensfremd wie der Mond. Wien ist ein Teil meiner Hirnstruktur und spricht aus mir, während Auschwitz der abwegigste Ort war, den ich je betrat, und die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in der Seele, etwa wie eine nicht operierbare Bleikugel im Leib. Auschwitz war nur ein gräßlicher Zufall.

(Ruth Klüger, Weiter leben)

Jetzt muß ich noch die Liste finden.

4 Gedanken zu „In Ordnung

  1. Liebe Annett,

    ich liebe es, wie du mich mit jedem deiner Blogeinträge stolpern lässt. Dieser hier ist ein großes Stolpern. Beiseite treten. Stolperstein besehen. Nachdenken. Danke. Hoffentlich findest du die Liste nochmal.
    Noch immer einen gemeinsamen Kaffee wünschend, wollend…

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