Die Schönheit des Scheiterns

 

 

 

 

 

 

Zu Beginn des letzten Jahres habe ich mir selbst Geschenke gemacht. Ein Journal, in das ich fünf Jahre lang jeden Tag ein paar wenige Zeilen schreiben kann und ein Notizbuch für gelesene Bücher. Das Notizbuch füllt sich langsam, aber stetig. Am 5-Jahresplan hingegen bin ich grandios gescheitert. Die letzten Einträge stammen von Ende April. Von den zahlreichen Lücken zwischen diesen und denen aus dem Januar will ich gar nicht erst reden.

Auf der ersten Seite meines Lektürearchives kann man lesen: Am meisten haben mich ihre Sprache und Klugheit fasziniert, ihre feministische Grundhaltung, ihr bodenständiger und doch scharfsinniger Intellekt. Und der Eintrag vom 23. Januar 2016 in meinem vorerst gescheiterten Großprojekt erzählt mir, daß ich an diesem Tag das Buch der Autorin beendet habe, von der ich im Archiv spreche. Zwei Tage später erfolgte eine Notiz, die den Beginn der Lektüre eines weiteren Buches von ihr vermeldet.

Die Autorin heißt Edith Anderson.

Ich bin durch einen kurzen Beitrag im Radio auf sie aufmerksam geworden. Eine Amerikanerin, die nach dem zweiten Weltkrieg die bewußte Entscheidung getroffen hat, ihrem deutschen Mann, dem späteren Cheflektor des Aufbau-Verlages Max Schroeder, in den Teil Deutschlands zu folgen, der seine Zukunft im Kommunismus sah, weckte zwangsläufig mein Interesse. Ich war gespannt auf ihren unbefangenen Blick und wollte mit ihr ein paar Schritte heraustreten aus eingespielten Routinen in der Betrachtung ost- und westdeutscher Lebenswirklichkeiten.

Ich wurde nicht enttäuscht, mehr noch, meine Erwartungen wurden übertroffen. Im Laufe der Lektüre von Liebe im Exil trat allerdings das Ost/West-Thema für mich in den Hintergrund. Stattdessen wurde Edith Andersons feministische Grundhaltung für mich zum Hauptakteur, welche auch und gerade mit den Gepflogenheiten in kommunistischen Kreisen kollidierte und am Traum von einer Gesellschaft mit freien Menschen kratzte.

Der Roman Liebe im Exil bewegt sich zeitlich zwischen dem Kennenlernen des Paares in den frühen 40er Jahren in New York und dem Tod Max Schroeders im Jahr 1958 in der DDR. In dieser Zeit wird auch ihre gemeinsame Tochter geboren. Die wenigen Jahre, die Edith Anderson mit ihrem Mann verbringen kann, sind geprägt von der parteipolitisch gesteuerten Kulturarbeit ihres Mannes und dem Versuch, Ediths Ambitionen als Schriftstellerin und die Anforderungen eines Haushaltes mit Kleinkind/Kind in Einklang zu bringen. Was als hoffnungsfrohe Arbeits- und Lebenspartnerschaft begann, läßt die Autorin mit den Jahren zunehmend vereinsamen. Die Enttäuschung sowohl über ihre Arbeitsmöglichkeiten als Schreibende als auch über die wachsende Entfremdung von ihrem Mann, kommt immer wieder zur Sprache. Dabei geht sie mit sich selbst und ihren angenommenen Unzulänglichkeiten, ihren falschen Hoffnungen und ihrem Unvermögen, den Konflikt zwischen Schreiben und Leben zu lösen, hart ins Gericht.

Frauen sind Exilanten der menschlichen Gesellschaft, sie leben in einer Welt für sich, die der von Männern nur im Mobiliar, den Stühlen, den Tischen, dem Bett, das sie teilen, ähnelt.
Es brauchte noch zwanzig Jahre, bis einige mutige Frauen im englischsprachigen Westen ihren ertrinkenden Schwestern eine Rettungsleine zuwarfen. Ihre Analysen und Ermahnungen konnten das klassische, unlösbare Problem, das Max und ich hatten, auch nicht beheben, doch sie konnten den Frauen beibringen, sich selbst zu definieren. Wie wichtig das für mich wäre! Und es käme nicht zu spät! Wenn eine Frau noch vor dem letzten Tag ihres Lebens gelernt hat, fremde Definitionen abzuschütteln und sich selbst zu definieren, ist es noch nicht zu spät.

Edith Anderson schreibt ohne Larmoyanz und mit einer bewundernswerten, sehr eigenen Stimme, die gezeichnet ist von ihrer Fähigkeit, den Untiefen des Lebens mit Selbstironie und einem hohen Grad an Reflektionsvermögen zu begegnen. Ihr Feminismus ist kein laut tösender, kein widerspruchsloser, keiner, der die Antworten schon im Gepäck hätte, bevor die richtigen Fragen gestellt werden. Es ist ein Feminismus, der sich nach Gleichheit sehnt, nach Verständigung und gegenseitigem Vertrauen. Edith Anderson legt den Finger in Wunden, die ihre eigenen sind. Ihr Festhalten an der Liebe und ihr tiefes Verständnis für die Zwänge und Nöte des Mannes an ihrer Seite hindern sie nicht daran, die Situation der Frauen sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in ihrer Wahlheimat mit klarem, analytischem Verstand zu betrachten und ihre eigenes Leben dazu in Bezug zu setzen.

Wie konnte die eheliche Zwangsjacke, dasselbe Modell, derselbe Tinnef für jedes Paar (egal was für hoffnungsfrohe Namen sie ihr gaben), nicht in Stücke gerissen werden, wenn zwei Bedürfnispaare in entgegengesetzten Richtungen an ihr zu zerren begannen? Aber solche Fetzen halten, diese Fetzen verbinden. Selbst wenn sie komplett aufgedröselt sind – weggeblasen, nur noch einzelne Fäden, die sich an einen kahlen Ast klammern und sich in den Tiefen des Waldes verlieren -, die kaum noch erkennbaren Überreste ehelichen Spinnens und Webens waren die Fesseln, die zwei Menschen verbanden, zu Sklaven machten, sie in den Wahnsinn trieben.

Das Personal ihrer Erinnerungen setzt sich aus vielen bekannten Namen zusammen und die wunderbaren, detailreichen Beschreibungen einzelner Personen zeigen, wie tief Edith Anderson bei ihren Beobachtungen in die Psyche ihrer Mitmenschen eindringt. Sie schont dabei niemanden, auch nicht sich selbst. Diese Schonungslosigkeit den Menschen und ihrer eigenen Person gegenüber hat trotz allem etwas sehr Verletzliches und Ehrliches. Sie läßt den Irrtum ebenso zu wie die Nachsicht. Liebe im Exil erschien erstmalig 2007 im Basis Druck Verlag und wurde von ihrer Tochter herausgegeben.

Bereits im Jahr 1972 erschien in der DDR im Verlag Volk und Welt ihr ebenfalls autobiographisch motiviertes Buch Der Beobachter sieht nichts. Ein Tagebuch zweier Welten, in dem der ganz eigene Anderson-Sound schon zu finden ist. Darin verarbeitet sie ihre Eindrücke aus einem fast einjährigen USA-Aufenthalt, den sie 1967 begann, um sich selbst zu beweisen, daß sie immer noch in der Lage ist, ein selbständiges Leben in ihrer Heimat zu führen. Sie schreibt über die Kontakte zu alten Freunden und Bekannten, die sie noch aus den Tagen in der kommunistischen Partei hat, über neue Bekanntschaften, ihre Erlebnisse bei der Arbeits- und Wohnungssuche, über die politischen Zustände jener Zeit, über die Liebe und natürlich über die Lebenssituation der Frauen. Mein Exemplar ihres Buches ist übersät von Lesezeichen. Ich würde hier gern Zitat um Zitat aneinanderreihen, so amüsant, so tiefsinnig, so wahr sind ihre Sätze. Jeden Tag scheint mir ein anderes treffender als das ursprünglich ausgewählte, ich kann mich weder dafür noch dagegen entscheiden. Und am Ende ist ein einzelnes Zitat nicht in der Lage, die Melodie und den Rhythmus der Andersonschen Sprache einzufangen, der man nach ein paar Seiten Lektüre verfällt. Ergo: Ihr kommt nicht umhin, Edith Anderson selbst zu lesen. Zu viel ginge verloren, wenn ihr euch mit meiner Auswahl von wenigen Sätzen begnügen würdet. Dazu vielleicht ebenfalls Edith Anderson:

Alternativen sind gepaart wie siamesische Zwillinge. Welche Alternative ein Mensch auch wählt, die andere begleitet ihn für den Rest seines Lebens und klagt ihn an.

Edith Anderson initiierte zu Beginn der 70er Jahre eine Anthologie zum Thema Geschlechtertausch, deren Veröffentlichung immer wieder verzögert wurde, so daß im Nachgang verschiedene beteiligte Schriftsteller Geschichten zu diesem Thema vorab veröffentlichten und bei Erscheinen der Anthologie Blitz aus heiterem Himmel im Jahre 1975 Geschlechtertauschgeschichten schon nicht mehr neu waren. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Reaktionen männlicher Vertreter des Literaturbetriebes, die zur Mitarbeit angeregt wurden. Stellvertretend dafür vielleicht die Aussage des Verlagslektors, der seinen Wunsch, nur Schriftstellerinnen mögen zum Thema Geschlechtertausch schreiben, damit begründete, dass kein wahrhafter Mann sich selbst als Frau imaginieren könne. Es sei ein Frauenthema, demzufolge auch ein Frauenbuch. Dem entgegnete Anderson, daß die Welt aus Männern und aus Frauen bestünde und eine wirkliche Emanzipation die Empathie beider Geschlechter fordere.*

Die Emanzipation von Mann und Frau war Edith Andersons großes Thema, das sich durch ihr literarisches Schaffen als roter Faden zieht. Wer ihre Bücher unter dieser Prämisse liest, wird belohnt mit klugen, anregenden Gedanken zum Thema und mit einem Erfahrungsschatz, der trotz der Jahrzehnte, die vergangen sind, immer noch hochaktuell ist. In ihrem Amerika-Buch schreibt sie vor beinah 50 Jahren:

Was einen Mann ausmacht und was eine Frau, davon weiß man hier nichts, obwohl man unablässig über „Maskulinität“ und „Feminität“ faselt. Die Frauen hier sind ungewöhnlich aggressiv und die Männer ungewöhnlich schüchtern. Vielleicht ist das eine Folgeerscheinung davon, daß die bürgerliche Frauenrechtsbewegung, die so früh (vor 1848) und so heldenhaft begann, seit 1919 mehr oder minder stagniert, als wären damit, daß das Frauenwahlrecht durchgesetzt war, alle Probleme der Gleichberechtigung gelöst. Die Bewegung ist nie logisch bis zu ihrem Ziel durchdacht worden.

Es ist einiges passiert, seit diese Zeilen geschrieben wurden. Der Eindruck, daß auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter die größte Strecke hinter uns liegt, will sich indessen nicht einstellen.

Vielleicht könnte man die Ergebnisse Edith Andersons lebenslanger Bemühungen, als Schriftstellerin Fuß zu fassen als ein Scheitern betrachten, ihren Versuch, Leben und Schreiben miteinander zu versöhnen als einen Kampf gegen Windmühlen, doch selbst wenn „Liebe im Exil“ ihr einziges Buch geblieben wäre, ich kenne niemanden, der so schön gescheitert ist.

 

* unter Verwendung des Textes von Helen Thein Eine Amerikanerin in Ostberlin: Edith Anderson aus Reizland DDR: Deutungen und Selbstdeutungen literarischer West-Ost-Migration, herausgegeben von Andreas Degen, Margrid Bircken, V&R unipress Göttingen, 2015

 

 

 

 

 

 

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