Worte mit Flügeln

IMG_3490Ich bin ein skeptischer Mensch. Man erkennt es an der senkrechten Falte auf meiner Stirn, kurz über der Nasen-
wurzel, die sich durch häufiges Augenbrauen-
zusammenziehen dort manifestiert hat. Ich arbeite daran, dieses Erscheinungsbild durch Lachfältchen zu relativieren. Der Schatten, über den ich dabei springen muss, ist nur oft recht lang. Ich bin aus genannten Gründen nicht der Typ Mensch, der anfällig ist für die auf Postkarten gedruckten Lebensweisheiten. Ich glaube nicht daran, daß ein einzelner Satz durch ein ganzes langes Leben tragen kann, was nicht heißt, daß ich es mir nicht wünsche. Ich bin fasziniert, wenn Menschen ein Lebensmotto haben. Ich horche ein wenig neidisch auf, wenn jemand von der Oma/dem Opa erzählt, die/der stets diesen wunderbaren klugen Gedanken auf den Lippen hatte, nach welchem das Leben immer noch eingenordet wird.

Es gibt jedoch einen Satz, der die Qualität in sich trägt, mein Satz fürs Leben werden zu dürfen. Er lautet: Bleib weg von offenen Fenstern.

Zu finden ist der Satz in  John Irvings Roman Das Hotel New Hampshire und im gleichnamigen Spielfilm von 1984. Zu mir geflogen ist er durch den Film, den ich zusammen mit ein paar für mich sehr wichtigen Menschen gesehen habe. Unsere Biografien kreuzten sich  vor vielen Jahren für eine bestimmte Zeit und seitdem haben wir uns nie ganz aus den Augen verloren. Wir haben eine sehr intensive Zeit zusammen verbracht, die man so nur erlebt, wenn man jung ist. Mehrere dicke Fotoalben erzählen unsere Geschichte. Damals hatten wir kollektiv eine ausgeprägte John Irving-Phase. Bei mir sind seine Bücher zwar nie ganz oben gelandet, aber ich habe sie wirklich gern gelesen: Garp und wie er die Welt sah, Gottes Werk und Teufels Beitrag und Das Hotel New Hampshire sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Vielleicht sollte ich sie mal wieder lesen. John Irvings skurriler Kosmos bildete eine eigene kleine Welt für uns, und nachdem wir den Film Das Hotel New Hampshire gesehen hatten, wurde der Satz Bleib weg von offenen Fenstern zu einer Art leichtfüßigem Mantra, zu einer Parole, einem Abschiedswort, einer Umarmung. Im Buch und im Film bildet er die Klammer, die die Familie Berry im Leben festhält oder zumindest festhalten soll. Leider gelingt das nicht immer.

In meinem Leben hat der Satz jahrelang keine Rolle mehr gespielt. Ich hatte ihn einfach vergessen. Irgendwann war er plötzlich wieder da. Ich weiß nicht, warum. Manchmal habe ich seitdem das Bedürfnis, meine Freunde anzurufen und einfach nur diesen Satz zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, mit welcher Reaktion ich rechnen dürfte. Wer erinnert sich noch? Wer versteht die Geste und nimmt sie an? Würde das alles nicht etwas deplatziert wirken, so ohne jeden Zusammenhang? Ich glaube, ich hätte Angst davor, daß etwas verloren gegangen sein könnte, an dem ich fest hänge und das ich nicht loslassen möchte. Wir haben uns alle verändert, haben Familien gegründet und die Zeit, die wir miteinander verbringen können, läßt nie genug Luft für Müßiggang, aus dem schöne Gespräche und allerlei Nonsens erwachsen könnten. Vor ein paar Jahren haben wir angefangen, uns alle ein bis zwei Jahre für ein langes Wochenende mit Kind und Kegel zu treffen. Das Wochenende vergeht meist wie im Rausch und am Ende sind wir gefüttert mit allen wichtigen Informationen in privaten und beruflichen Belangen. Die Sehnsucht nach Gestern reist wieder mit zurück nach Hause. Unerfüllt. Das macht nichts. Alles hat seine Zeit, wie man so schön sagt.

Vielleicht empfinden die anderen nicht wie ich. Ich habe sie nie danach gefragt. Das müsste ich auch gar nicht, wenn ich sage: Bleib weg von offenen FensternDiesen Satz zu benutzen, wäre, wie einen Anker in die Vergangenheit zu werfen und sich ein wenig treiben zu lassen im Strom der Erinnerungen, um sich gleichzeitig zu versichern, daß Heute die Vergangenheit von morgen sein wird und wir immer noch da sein werden. Zusammen.

Keep Passing The Open Windows.

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